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Titel
Tenere et habere. Leihen als soziale Praxis im frühen und hohen Mittelalter


Herausgeber
Dendorfer, Jürgen; Patzold, Steffen
Reihe
Besitz und Beziehungen
Erschienen
Ostfildern 2023: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Giuseppe Albertoni, Dipartimento di Lettere e Filosofia, Università di Trento

Fast dreißig Jahre sind seit der Veröffentlichung von Susan Reynolds‘ „Fiefs and Vassals“ vergangen, und die lange Welle der historiographischen Debatte, die diese wichtige Monographie ausgelöst hat, ist noch lange nicht zu Ende.1 Zu den jüngsten und interessantesten Ergebnissen dieser Debatte gehört der Band „Tenere et habere. Leihen als soziale Praxis im frühen und hohen Mittelalter“, herausgegeben von Jürgen Dendorfer und Steffen Patzold, der dreizehn Aufsätze beinhaltet, die aus den mehrjährigen Treffen einer Forschungsgruppe vorwiegend an den Universitäten Freiburg und Tübingen hervorgegangen sind. Ergänzt werden diese Aufsätze durch eine ausführliche methodische Einführung der beiden Herausgeber, die auch eine nützliche Zusammenfassung der verschiedenen Aufsätze am Ende des Buches liefern, begleitet von wichtigen Überlegungen für die künftige Forschung zu den sozialen Praktiken, die seit langem auf das verbindende Konzept des Lehnswesens zurückgeführt werden. „Das Ziel des Bandes“, schreiben sie in ihrem Vorwort, „ist erreicht, sollte er einmal als Ende einer älteren Diskussion und als erster Anstoß für Weiterführendes betrachtet werden“ (S. 10). Schon jetzt lässt sich sagen, dass dieses Ziel weitgehend erreicht wurde.

Der von Jürgen Dendorfer und Steffen Patzold herausgegebene Band ermöglicht es, die durch „Fiefs and Vassals“ ausgelöste Debatte, die zur endgültigen Überwindung des Mitte der 1940er-Jahre von François-Louis Ganshof vorgeschlagenen Modells des Lehnswesens geführt hat, einen wichtigen Schritt voranzubringen. Angesichts dieser tiefgreifenden historiographischen Revision, zu deren Hauptakteuren sie gehören, wollen Dendorfer und Patzold mit ihrem Buch noch einen Schritt weiter gehen: „Wir möchten“, so schreiben sie klar und deutlich, „für dieses Buch zwar das Modell des Lehnswesens mit seiner Terminologie beseitigen, stattdessen aber eine neue, offenere Begrifflichkeit erproben, mit der wir das Leihen von Land und anderen Gütern und die Folgen dieser Praxis für Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Militärwesen des Früh- und Hochmittelalters auf eine andere Art erfassen und analysieren können“ (S. 16).

Bei der Ausarbeitung dieser neuen Terminologie folgen sie dem Weg, den Reynolds in einer wichtigen methodischen Passage ihres Buches vorgezeichnet hatte, in der sie in Anknüpfung an Ivor Armstrong Richards und Charles K. Odgen ein semiotisches Dreieck ausarbeitete, das auf der Unterscheidung zwischen Wort (dem Namen der Dinge), Begriff (dem, was man aufgrund des Namens von den Dingen denkt) und Phänomen (den Dingen) beruht.2 Der fatale Fehler der meisten Historiker, die sich mit Lehen, Vasallen und Feudalismus beschäftigen, besteht nach Ansicht der englischen Historikerin gerade darin, die Realität mit ihrer Definition oder Begrifflichkeit zu verwechseln. Um diesen Fehler zu vermeiden, schlagen Dendorfer und Patzold vor, eine neue Terminologie zu entwickeln „die es Historikern erlaubt, einigermaßen klar über die Praxis des Leihens im Mittelalter zu sprechen“ (S. 17). Sie tun dies, indem sie es ablehnen, das Wort Lehen zu verwenden, das zu sehr mit einem feudo-vasallitischen Erbe belastet sei, und es durch Leihe im Sinne von Wilhelm Ebel ersetzen, verstanden als „‘Übertragung einer abgeleiteten Befugnis, eine Ermächtigung, die Ausübung übertragener Rechte zum Gegenstand‘ hat“ (S. 17–18). Anschließend wenden sie diesen offenen Begriff auf die Untersuchung der Vielfalt der Formen des Leihens in den mittelalterlichen Gesellschaften vor der Mitte des 13. Jahrhunderts an und versuchen zu verstehen, wie diese Vielfalt mit den wenigen Quellenwörtern (beneficium, feudum, precaria, emphytheusis, libellus) und den mit ihnen verbundenen Konzepten zusammenhing.

In dieser Perspektive identifizieren sie drei „etwas deutlicher fassbare Konzepte“ des Leihens (S. 19–20): die Prekarie, die Pacht und das Pfand. Für alle anderen Formen der Leihe entwickeln sie zwei weitere Konzepte. Das erste ist das der normalen Leihe, d. h. einer Leihe, die nicht in die drei vorhergehenden Typen passt und nicht mit einer Gegenleistung verbunden ist. Das zweite ist das der konditionalen Leihe, die wiederum in Leihe gegen Dienst und Leihe gegen Abgaben unterteilt wird. Diese Konzepte liegen allen Aufsätzen dieses Bandes zugrunde, die sich jeweils mit einem spezifischen Quellencorpus befassen. Von den zwei Hauptteilen des Bandes ist der eine dem Frühmittelalter, der andere dem Hochmittelalter gewidmet.

Besonders gelungen ist der erste Abschnitt, der sich mit einer historischen Phase befasst, die in der jüngeren historiographischen Debatte über das Lehnswesen teilweise am Rande geblieben ist. Den Auftakt bildet ein Aufsatz von Christoph Haack, der sich der Analyse der Landleihen in den karolingischen Kapitularien widmet und dabei feststellt, dass für die normale Leihe keine spezifischen Rechtsregeln existierten und bei den Abgaben nur die precariae pro verbo regis und ihr Zusammenhang mit den der Kirche zu übertragenden "Neunten und Zehnten" im Vordergrund standen. Das Fehlen eines normativen Rahmens für die Leihe wird auch durch den Aufsatz von Daniel Ludwig bestätigt, der 1600 karolingische Urkunden analysierte, die die große Flexibilität der Leihe in verschiedenen Kontexten und ihre Verwendung nicht so sehr zur Schaffung einer persönlichen Beziehung nach dem alten Ganshof-Modell, sondern zur Belohnung einer bereits bestehenden Beziehung belegen. Eine ähnliche Flexibilität wird auch in den nachfolgenden Aufsätzen von Thomas Kohl und Fraser McNair hervorgehoben, die sich mit Formen der Leihe in Privaturkunden aus dem östlichen und westlichen Teil des fränkischen Königreichs befassen. Beide Aufsätze heben das Vorhandensein einer beträchtlichen Vielfalt und Flexibilität der Formen der normalen Leihe hervor, die jedoch auf regionaler Ebene einer sozialen Dynamik folgten. Diese beruhte auf gemeinsamen Regeln, die verschiedene soziale Akteure, einschließlich Frauen, einbeziehen konnten. Besondere Aufmerksamkeit widmet Kohl in diesem Zusammenhang auch der Leihe gegen Dienst, die, anders als Ganshof meinte, vor allem die Kleriker betraf, so dass gerade das servitium der Kleriker als Vorbild für das der Laien diente.

Die von Kohl und McNair hervorgehobene Vielfalt der Leihe wird auch von Marco Veronesis Aufsatz über die Prekarien in den westfränkischen und alemannischen Formularsammlungen bestätigt, in dem er die Notwendigkeit betont, sich von rechtlichen Kategorien zu befreien, die uns dazu zwingen, soziale Praktiken zu standardisieren. Im konkreten Fall der Prekarie unterscheidet er deutlich zwischen ihrer Verwendung im Westen des Frankenreichs, wo sie Bittleihen einer gewissen Konsistenz waren, und in Alemannien, wo sie hauptsächlich zur Regelung der Erbfolge eingesetzt wurden.

Aber können wir in dieser Vielfalt allgemeinere soziale Dynamiken hervorheben, die es uns erlauben würden, aus einem allzu fragmentierten Bild herauszutreten und die alten Interpretationsmodelle zumindest teilweise zu ersetzen? Dies gelingt Steffen Patzold in seinem der Leihe in den Polyptychen des 9. Jahrhunderts gewidmeten Aufsatz. Indem er einige auch in den Aufsätzen von Haack und Kohl hervorgehobene Elemente aufgreift, erarbeitet er eine innovative Vorgeschichte des Lehnswesens, die überzeugend die Verbindung von Landleihe durch geistliche Institutionen an Freie (einschließlich der Pächter) und dem Kriegsdienst für den König in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Es handelt sich um eine Verbindung, die sich in einer Welt vollzog, die durch unterschiedliche Abstufungen in den Formen der Abhängigkeit und durch ein regnum gekennzeichnet war, in dem „der König gerade als Oberhaupt der ecclesia Treue und Dienst von allen Freien erwarten konnte“ (S. 182).

Patzolds Aufsatz schließt somit den ersten Teil des Bandes ab, während der zweite Teil, der dem Hochmittelalter gewidmet ist, mit zwei Aufsätzen zur hochmittelalterlichen Historiographie beginnt. Im ersten analysiert Levi Roach das Vorhandensein der verschiedenen Formen der Leihe in der Reichshistoriographie der späten Salier- und frühen Stauferzeit. Er hebt hervor, dass das häufige Vorhandensein von milites und beneficia kein Hinweis auf ein lehrbuchhaftes Lehnswesen ist, sondern das Vorhandensein eines fruchtbaren Bodens bezeugt, der das Aufpfropfen neuer Vorstellungen gelehrten Rechts in der Barbarossazeit begünstigte. Gerade dem Lehnsrecht und seinen Spuren in der staufischen Reichschronistik zwischen 1150 und 1250 ist der Aufsatz von Roman Deutinger gewidmet, der einerseits bereits gefestigte Errungenschaften bestätigt, andererseits daran erinnert, wie oft das Lehnsrecht zwar vorhanden war, aber ein „rein äußerlich-formales Instrument“ blieb, in das unterschiedliche soziale Praktiken gerahmt wurden (S. 228).

Der komplexen Dialektik zwischen sozialen Praktiken und ihrer Definition durch die Rechtssprache ist auch der umfangreiche Aufsatz von Rüdiger Lorenz gewidmet, der 600 zwischen 1125 und 1250 ausgestellte Königs- und Kaiserurkunden analysiert. Im Vergleich zur Situation in Deutschland und Italien skizziert Lorenz einen grundlegenden Wandel zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert, als sich vor allem durch das Wirken der Notare nicht nur die politische, rechtliche und wirtschaftliche Praxis, sondern auch die Sprache, in der sie zum Ausdruck kam, grundlegend veränderte. Ausgehend von diesen Erkenntnissen untersuchen die folgenden vier Aufsätze die Formen dieses Wandels von Sprache und sozialer Praxis in einzelnen regionalen Kontexten. Sebastian Kalla und Jürgen Dendorfer befassen sich mit den Zeugnissen von Leiheformen in den Bamberger Bischofsurkunden des 12. und 13. Jahrhunderts bzw. in den bayerischen Traditionsbüchern desselben Zeitraums. Obwohl sie von sehr unterschiedlichen Quellen in Bezug auf Typologie und Zweck ausgehen, kommen ihre Forschungen zu ähnlichen Ergebnissen, die bestätigen, dass die Wörter beneficium und feudum (mit einem Übergang zwischen den beiden um 1200) auch im Hochmittelalter polysem bleiben und sich auf sehr vielfältige soziale Praktiken der normalen Leihe beziehen. Ein ähnliches Bild ergibt sich in den beiden Aufsätzen, die den Band abschließen und sich mit Fallstudien zu Urkundenbeständen in Italien befassen. Im ersten Aufsatz behandelt Rebekka de Vries den Fall der Leiheformen in den Privaturkunden Vercellis im 12. Jahrhundert und zeigt, wie diese auch dann noch flexibel blieben, als sich um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine spezifischere leihrechtliche Terminologie durch die Arbeit einiger Notare zu etablieren begann. Im zweiten Aufsatz erörtert Alberto Spataro die in den Urkunden des Mailänder Klosters Sant'Ambrogio vor 1185 bezeugten Leiheformen und die verschiedenen Urkundentypologien, die für ihre Registrierung in einem Rahmen verwendet wurden, der wiederum durch eine starke Fluidität gekennzeichnet war, die sich nicht in ein starres Lehnssystem einordnen ließ.

Fluidität, Flexibilität und Vielfalt sind somit die Schlüsselwörter, die sich durch alle Aufsätze dieses wichtigen Bandes ziehen, der einen qualitativen Sprung in der durch Susan Reynolds‘ „Fiefs and Vassals“ ausgelösten Debatte vollzieht, indem er sie von einer notwendigen pars destruens zu einer ebenso notwendigen pars construens auf der Grundlage neuer Interpretationsmodelle und neuer Untersuchungskonzepte führt.

Anmerkungen:
1 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994; zu dieser Debatte siehe: Il feudalesimo nell’alto medioevo, Spoleto 2000; Jürgen Dendorfer / Roman Deutinger (Hrsg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz, Ostfildern 2010; Sverre Bagge / Michael H. Gelting / Thomas Lindkvist (Hrsg.), Feudalism. New Landscapes of Debate, Turnhout 2011; Steffen Patzold, Das Lehnswesen, München 2012; Karl-Heinz Spieß (Hrsg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert, Ostfildern 2013; Giuseppe Albertoni, Vassalli, feudi, feudalesimo, Roma 2015.
2 Reynolds, Fiefs and Vassals, S. 12; Susan Reynolds, Fiefs and Vassals after Twelve Years, in: Bagge / Gelting / Lindkvist (Hrsg.), Feudalism, S. 15–26, bes. S. 18.

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